Andreas Eschbach, CEO
Die Prozessindustrie befindet sich im Wandel. Eine Welle an Arbeitskräften wird in den kommenden Jahren vom Arbeitsmarkt verschwinden. Und mit Mitarbeitern, die sich entweder beruflich neu orientieren oder in den Ruhestand verabschieden, entfernt sich wichtiges Wissen über den Betrieb und die Prozesse. Sofern die Erfahrungswerte nicht dokumentiert wurden, geht ein enormer Wissensschatz verloren. Doch wie können Sie sicherstellen, dass implizites Wissen nicht verschwindet, wenn Personen das Unternehmen verlassen?
Ein sicherer und effizienter Anlagenbetrieb hängt nicht nur von Anleitungen, SOPs und Schulungsunterlagen ab, sondern vielmehr von implizitem Wissen. Erfahrungswerte, die im Alltag gewonnen werden, aber auch Routine und Können sind von großer Bedeutung vor allem in Unternehmen mit komplexen und vordefinierten Abläufen. Gefragt sind Prozesse und Lösungen, die ein rechtzeitiges Erfassen von Wissen und eine strukturierte Informationsweitergabe ermöglichen. Eine smarte Wissensmanagement-Lösung kann beide Arten von Wissen dokumentieren, sowohl explizit als auch implizit und dieses für die Mitarbeiter nutzbar machen, sobald es benötigt wird.
Explizites und implizites Wissen: Was verbirgt sich dahinter?
Die Prozessindustrie lebt von komplexen und vordefinierten Abläufen. Insbesondere in der Prozesswelt benötigen Mitarbeiter sowohl explizites als auch implizites Wissen, um ihre Arbeit gut zu erledigen:
Explizites Wissen: Mitarbeitern wird Wissen in Form von dokumentierten Prozessen und Handbüchern, die die meisten ihrer täglichen Aktivitäten betreffen, zur Verfügung gestellt. Explizites Wissen beschreibt also dokumentiertes Wissen, dass für andere greifbar ist, z.B. in Form von Arbeitsanweisungen, dokumentierten Abläufen, Berichten oder Zeichnungen.
Implizites Wissen: Im Arbeitsalltag lernen Mitarbeiter aus ihren
Erfahrungen. Dieses Wissen hilft ihnen im Alltag, ohne dass ein Leitfaden zu
Rate gezogen werden muss. Implizites Wissen existiert als Können und Erfahrung also
nur in den Köpfen der Mitarbeiter. Es ist schwer greifbar, speicherbar und
verteilbar.
Der größte Teil des Wissens in der Prozessindustrie basiert auf implizitem Wissen. Fähigkeiten und Erfahrungswerte wurden in der Praxis angeeignet und sind selten dokumentiert. Um vom Anlagenfahrer zum Schichtleiter aufzusteigen, werden in den meisten Fällen mehrere Jahre Berufserfahrung vorausgesetzt. Das zeigt, wie wichtig implizites Wissen in der Prozesswelt ist und gleichzeitig wie komplex der Ablauf in der chemischen Industrie ist. Mit einem umfangreichen Erfahrungsschatz, der mit den Jahren wächst, können Fehler und Störungen schneller behoben werden. Mitarbeitern, die jahrelang in Praxiserfahrungen sammeln konnten, fällt es leichter kritische Beobachtungen korrekt einzustufen und die passenden Entscheidungen zu treffen.
KI als Chance zur Erfassung von implizitem Wissen
Bei einer erfahrenen Belegschaft erfolgt der Transfer von implizitem Wissen in der Regel unkontrolliert und situativ: "Hey, Markus, was hältst du von diesen Zahlen?" "Marie, kannst du mir einen Rat zu diesem Rezept geben?" Doch was passiert, wenn Markus und Marie das Unternehmen verlassen? Wohin werden sich neue Mitarbeiter wenden, um Antworten auf Fragen zu finden, die nicht im Handbuch aufgeführt sind?
Viele wichtige Erkenntnisse sind in Dokumenten wie Schichtübergabeprotokollen, E-Mails und Notizen aus Rundgängen verborgen. Wichtige Informationen werden häufig auch mündlich weitergegeben. Hinzukommen Daten und Informationen aus Maschinen. Systeme, die alle Informationen bündeln und kanalisieren, bieten neues Potential und zukunftsorientiertes digitales Plant Process Management (PPM).
Schnittstellen zu den relevanten Systemen sind der erste Schritt einer effektiven Wissensmanagementlösung: Mit einer Single Source of Truth, einer einzigen Informationsquelle sind alle Mitarbeiter auf demselben Wissensstand. Darüber hinaus kann ein smartes Wissensmanagement unterschiedliche Sichtweisen und Darstellungen Mitarbeitern in verschiedenen Positionen zur Verfügung stellen. Während der Anlagenfahrer in erster Linie von einer Übersicht über Anlagenstatus, anstehende Aufgaben und Priorisierungen profitiert, möchten Wartungsmitarbeiter schnell eine Übersicht der Auffälligkeiten sehen während Betriebsleiter Dashboards zu Performance benötigen. Mitarbeiter sollten prozessrelevante Informationen so spontan wie notwendig zur Verfügung haben – in einer nutzerfreundlichen Form.
Insbesondere bei Störungen oder unerwarteten Vorkommnissen im Betrieb, müssen schnell Entscheidungen getroffen werden, z. B. bei einem Anlagenausfall oder einer unerwarteten Qualitätsdifferenz. Für die meisten Probleme gibt es Präzedenzfälle, die als Grundlage für Fehlerbehebungen dienen können. Schichtprotokolle und historischen Daten zu durchsuchen, ist jedoch zu zeitaufwändig – vor allem wenn jede verstreichende Minute große Umsatzverluste bedeuten. Und selbst wenn man digital suchen kann, welche Schlagworte sind zielführend? Was wenn die Lösung nicht bekannt ist?
Genau hier setzen KI-Tools, wie Natural Language Processing (NLP), an. NLP ist eine Form der KI, die es ermöglicht, ein System in einfacher menschlicher Sprache abzufragen (z. B. "Wann ist Anlage Alpha das letzte Mal überhitzt?"). Ein intelligentes Suchsystem, das auf NLP basiert, kann die von den Bedienern gestellten Fragen analysieren und die relevantesten Antworten zur Verfügung stellen. Dabei werden auch unterschiedliche Formulierungen zu ein und derselben Thematik betrachtet. Der Zugewinn durch die Intelligenz, die den Wissensschatz einordnen und klassifizieren kann, ist enorm.
Insgesamt wird mit der Suchfunktion viel Zeit im Vergleich zu herkömmlichen Suchmaschinen eingespart. Bei Suchen, die lediglich auf Schlagwörtern basieren, müssen Nutzer meist eine große Anzahl von Ergebnissen durchforsten, um die richtige Schlüsselinformation zu finden. Mit Hilfe von KI kann ein intelligentes Suchsystem irrelevante Ergebnisse sofort ausschließen und die relevantesten Ergebnisse zur Verfügung stellen.
Darüber hinaus sind KI-gestützte Suchsysteme in der Lage, Informationen aus mehreren Quellen zusammenzufassen. Die KI sucht in digitalen Schichtbüchern, wenn möglich auch standortübergreifend, nach ähnlichen Szenarien und deren Lösungen, berechnet Wahrscheinlichkeiten und listet optimale Lösungsstrategien. Damit wird die Zeit für die Fehlersuche erheblich reduziert.
Bewahrung von Erfahrungswerten
Wissensmanagement-Lösungen, die in der Lage sind, implizites Wissen zu erfassen, wird in Zukunft immer wichtiger. In vielen Betrieben geht institutionelles Wissen verloren, da langjährige Mitarbeiter in den Ruhestand gehen oder die Branche verlassen. Neue Mitarbeiter brauchen bis zu fünf Jahre, um sich sowohl mit den Prozessen und Verfahren als auch mit informellem Wissen vertraut zu machen. Gleichzeitig bedeutet der Trend zur Automatisierung, dass in Betrieben immer weniger Menschen über implizites Wissen verfügen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, das Wissen der heutigen Belegschaft zu erfassen und es für künftige Mitarbeiter leicht zugänglich zu machen.
Jetzt ist es an der Zeit, dass sich Betriebe mit dem Wissensproblem befassen. Intelligente Suche, Lösungsvorschläge und andere Formen der KI-Unterstützung werden den Mitarbeitern von morgen helfen, sich schnell zurechtzufinden und sowohl die Leistung des Betriebes als auch ihre eigene zu optimieren.